Der Used-Look und die mittelalterliche Darstellung. Teil 2

 

Nachdem wir uns im ersten Teil dieses Artikels ausgiebig mit den Begriffen „Immersion“ und „Authentizität“ im Bereich der Mittelalterdarstellung beschäftigt haben, reden wir heute über… Dreck. Dreck ist so etwas wie die 5-Minuten Terrine unter den Werkzeugen, mit denen man seine Klamotte vortrefflich personalisieren kann: Einfach in der Anwendung, kostet nicht viel und man muss in etwa die Intelligenz eines Rechtschritts Feldweg besitzen um mit der grundlegenden Benutzung nicht klar zu kommen. Allerdings gilt, sowohl für Dreck als auch für die 5 Minuten Terrine eine einfache Regel: Einfach? Ja. Aber das Endergebnis ist definitiv nicht immer zu empfehlen…

 

Das Internet ist nur so ein Trend. Das setzt sich nicht durch.

 

Es gibt ja in den berüchtigten Social Media Tümpeln unserer Zeit verschiedene besonders tiefe Tümpel, in denen man immer wieder dieselben oder sinnverwandte Phrasen an den Kopf geworfen bekommt, wenn man nach konstruktiver Kritik fragt. Eine dieser endlos wiederholten Phrasen ist: „Da fehlt Dreck!“. „Da fehlt Dreck!“ ist als Pauschalaussage allerdings ein ähnlich dummer Kommentar wie „Hauptsache dir gefällt es!“. Wo letztere einfach naiv und selbstverliebt verkennt, dass wir uns nicht für uns alleine vorm Spiegel, sondern im Rahmen eines sozial-interaktiven Hobbys, also von, mit und stellenweise auch für andere verkleiden ist und das Prinzip Immersion vollkommen außer Acht lässt, verkennt erstere, dass Dreck nicht immer das Maß aller Dinge und erst recht nicht, das erste Mittel der Wahl ist.

 

Natürlich sind Dreck und Schmutz unvermeidliche Wegbegleiter des fiktiven Lebens in einer pseudo-mittelalterlichen Welt. An Dreck und Schmutz führt kein Weg vorbei, aber der Gedanke IMMER seine Klamotten mit Dreck zu beschmieren, um authentischer zu wirken schießt vollkommen am Ziel vorbei. Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Positionen, die man zu diesem Thema einnehmen kann. Auf der einen Seite die Perwoll-Jünger, die ihre Klamotten nach jeder Veranstaltung in die Waschmaschine donnern und traditionellerweise in etwa mit: „Die waren doch nicht doof damals und konnten ihre Klamotten auch waschen!“, argumentieren. Nein, waren sie nicht und ja konnten sie. Allerdings… wenn selbst im Jahre 2019 meine Straßenklamotten irgendwann auseinanderfallen, meine Schuhe ihre Farbe einbüßen und manchen Flecken ums verrecken einfach nicht mehr rausgehen wollen, bin ich mir ziiiiiiiiiemlich sicher, dass in einer historisch anmutenden Welt, deren Anteil an schlammigen unbefestigten Wegen deutlich höher und deren Zugang zu chemischen Reinigungsmittel deutlich geringer war, doch einiges in der Klamotte geblieben ist. Ironischerweise sind eben diese Menschen häufig auf jene, die sich zu ihrer aprilfrischen, fleckenlosen Tunika, wahllos und unmotiviert Dreck ins Gesicht schmieren um „heruntergekommen“ und „bäuerlicher“ zu wirken… als ob man früher ständig seine Klamotten gewaschen hätte, aber nie auf die Idee gekommen wäre in den zahllosen unverschmutzten Bächen und Seen sein Gesicht zu waschen?!

 

Auf der anderen Seite steht die Fraktion, die ihre liebevoll geschneiderte Klamotte noch in der Stunde ihrer Geburt mit Tee, Kaffeesatz, Rotwein, Schere und Drahtbürste zu Leibe rückt, weil ja ALLES gebraucht aussehen muss. Ich danke dem Universum dafür, dass ich so etwas noch nie mit ansehen musste. Auch wenn ich persönlich den Eifer, den Ansatz und den Grundgedanken der Klamotte Authentizität zu verleihen durchaus schätze und begrüße, wird mir hier an mancher Stelle doch einfach zu weit gegangen. Ironischerweise kann man hier meine eigene Argumentation gegen mich verwenden und darauf hinweisen… „wenn selbst im Jahre 2019 meine Straßenklamotten irgendwann auseinanderfallen, meine Schuhe ihre Farbe einbüßen und manchen Flecken ums Verrecken einfach nicht mehr rausgehen wollen, bin ich mir ziiiiiiiiiemlich sicher, dass in einer historisch anmutenden Welt, deren Anteil an schlammigen unbefestigten Wegen deutlich höher und deren Zugang zu chemischen Reinigungsmittel deutlich geringer war, doch einiges in der Klamotte geblieben ist.“ Verdammtes Internet. Allerdings muss man dann auch sagen, dass meine Straßenklamotten zwar durchaus auseinanderfallen, Deoflecken haben, Löcher in der Waschmaschine bekommen und meine Lederjacke, die ich seit 7 Jahren quasi jeden Tag trage, langsam auseinanderfällt, dass meine Anzüge und die passenden Schuhe allerdings seit ebenso langer Zeit in einem hervorragenden Zustand sind.

 

Abbildungen, Abbildungen, Abbildungen! Ich höre immer nur Abbildungen!

 

Im Kern der Frage, welcher Grad an Verschmutzung denn jetzt gut oder angemessen sei, thront immer auch das Bild, welches wir von einer mittelalterlichen bzw. pseudo-mittelalterlichen Fantasywelt haben. Um das mal vorweg zu nehmen: Hier klaffen endlos tiefe Abgründe zwischen zwei auseinanderdriftenden Welten. Für die einen war das Mittelalter ein Potpourri aus zerlumpter, erdfarbener Kleidung, Fell, Schlamm, Schlamm und nochmals mehr Schlamm. Eine Welt errichtet aus Schlamm und Exkrementen, in der schmutzige Kinder in noch schmutzigeren Pfützen spielen und alles irgendwie heruntergekommen und schmuddelig ist: Tiere, Gebäude, Dinge, Menschen, alles.

 

Dem gegenüber steht die Fraktion, die eine der überstrapazierten Facebook-Aussagen etwas zu wörtlich genommen hat: „Die waren doch nicht doof damals!“. Nun ja, [Achtung: Spoiler] gemessen an heutigen Maßstäben, waren sie das durchaus doch. Diese Gruppe lässt sich von der Vorstellung leiten, dass die patenten Hausmittel und Wasch- bzw. Reinigungsgewohnheiten der damaligen Zeit, schon einen rudimentären, modernen Standard erfüllt haben, denn, wie wir wissen, waren die ja nicht doof damals.

 

Aber was stimmt denn nun? War das Mittelalter™1 ein lehmiger, überwässerter Sandkasten oder die sehr frühe Version eines Ariel-Werbespots als Kupferstich? Die ernüchternde Antwort: Darauf gibt es keine Pauschalaussage. Gerade wenn man die üblichen, vorhandenen Zeitzeugen bemüht (Beschreibungen und Abbildungen) ist der Bereich „Wie abgenutzt und heruntergekommen waren die Klamotten damals?“ erschreckend unterrepräsentiert. Je weiter man in dieser Sache in die Vergangenheit geht, desto schwieriger und dünner wird die Quellenlage, sofern man sein Augenmerk weiterhin auf das „Mittelalter“ lenken will und nicht in Richtung früherer Gefilde schielt. Während ein Tacitus noch in ziemlicher Plauderlaune über Material, Tragweise und Beschaffenheit germanischer Kleidung schwadroniert hat und hier und da durchaus die sinngemäßen Begriffe ärmlich, einfach und heruntergekommen eingeflochten hat, wird in jüngeren Texten deutlich weniger Bezug darauf genommen.2 Dazu kommt, dass gerade Beschreibungen immer im Kontext der jeweiligen Zeit betrachtet werden müssen und jeder Beschreibung, eine (mal mehr, mal weniger explizite) Intention innewohnt, die über eine objektive Beschreibung der Zustände hinaus geht. Man ist sich zwar nicht sicher, was Tacitus bspw. mit seinem Bericht bewirken wollte, aber sein Bild bricht mit der (nach heutigem Stand) archäologischen Wirklichkeit. Natürlich kann man an dieser Stelle einwerfen, dass, für einen Römer aus der Oberschicht, der Rest der bekannten Welt grundsätzlich ärmlich, einfach und heruntergekommen war, aber das sollen die Tacitus-Fanboys lieber unter sich diskutieren.

 

Okay, da die Beschreibungen von Augenzeugen immer mit Vorsicht zu genießen sind: Was ist mit Abbildungen? Abbildungen wären im Prinzip total toll. Stellen uns aber vor ein ganz anderes Problem. Das Mittelalter™ kannte keine Selfiekultur und keine Fashionblogs. Abbildungen waren allzu oft langwierige Kunsterzeugnisse, deren Aufwand in der Herstellung allein schon klare Präferenzen in der Wahl der Motive bedingt hat. Gehen wir früh zurück ins 11. Jahrhundert und nehmen den Teppich von Bayeux, als eines der vermutlich bekanntesten Beispiele. Wie wahrscheinlich ist es wohl, dass damals jemand auch nur für ein paar Herzschläge lang gedacht hat: „Du, hör mal, wir müssen jetzt hier diesen 70 Meter Teppich in akribischer Kleinstarbeit besticken. Wollen wir als Motiv lieber ein paar schlammige zerlumpte Bauern nehmen oder die Geschichte, wie Wilhelm der Eroberer England erobert hat?“. Eher unwahrscheinlich, oder? Ob in Wandteppichen oder in der Malerei: Die Darstellung historischer Begebenheiten, Orte bzw. Personen oder die Darstellung biblischer Motive, war der Kern des künstlerischen Schaffens jener Zeit. „Kunst“ als solche, hatte noch nicht die Rolle, die wir ihr heute zugestehen, ein Spiegel und Kommentator der Gesellschaft zu sein, für sich entdeckt. Darstellungen im Mittelalter™ dienten allzu oft lediglich dazu, eine Begebenheit grafisch und idealisiert festzuhalten. Kein Wunder also, dass abgenutzte Alltagskleidung nicht der heiße Scheiß unter den beliebten Motiven war.

 

Erst mit Beginn der Neuzeit wandelt sich, mit zunehmender Kunstfertigkeit, die Ästhetik in den Darstellungen. Szenen des alltäglichen Lebens, allegorische Motive, Sinnbilder und Darstellungen, die mehr Tiefe besitzen, als nur plump einen Moment grafisch der Zeit zu entreißen, halten in der breiten Malerei Einzug. Die Kunst macht sich Zusehens daran, die Lebensumstände und die Stimmung der Zeit einzufangen und auf die Leinwand zu bannen. Zum Glück für uns, finden sich immer mehr ungekünstelte, authentische Darstellungen unter jenen Bildern, die auch das Thema „Verschmutzung und Abnutzung“ beinhalten. „Der Blindesturz“ von Pieter Bruegel dem Älteren, aus dem Jahr 1568, zeigt beispielsweise eine geradezu hinreißend verdreckten Mantel.

 

Wobei man aber auch einfach sagen muss, dass ein weißer Mantel echt nicht die beste Idee eines reisenden Blinden ist.

 

Natürlich ist der Schmutz keine Erfindung der Neuzeit (ganz sicher nicht sogar), aber die Tatsache, dass er jetzt auch in der zeitgenössischen Kunst ankommt, deutet darauf hin, dass er zumindest seinen Platz im Alltag jener Zeit hatte, auch wenn die damals nicht doof waren… Obwohl es auf den ersten Blick absurd erscheinen mag: Je weiter wir uns der Moderne nähern, desto schmutziger wird die ganze Geschichte dort, wo man vermeintlich die Zivilisation erwartet. Mit voranschreitender Zeit werden gerade die großen Städte zu schlammgetränkten Ballungszentren menschlicher Ausscheidungen. Wer den Prolog zu „Das Parfum“ von Patrick Süsskind gelesen hat, weiß wovon ich spreche. Kein Wunder also, dass die Kombination aus Mantel und hohen Stiefeln ein Dauerbrenner in der Modewelt jener Zeit wurde, eine äußere Schicht allein gegen den Schmutz. Den bisherigen Peak in Sachen Großstadtschmutz erreichen wir schließlich in der Industrialisierung, als stetig wachsende Menschenmassen, fehlende sanitäre Anlagen und Industrieschmutz aufeinandertreffen. Wer sich in dieser Sache inspirieren lassen will, dem seien diese Herrschaften ans Herz gelegt: http://www.raggedvictorians.co.uk/homeless.

 

Wir können also festhalten: Es gab Schmutz. Es gab ihn schon immer. Das Fehlen befestigter Straßen und Wege dürfte an Regentagen keine Freude gewesen sein bzw. eine schlammige Freude, falls man auf sowas steht. Die Frage der grundsätzlichen Sauberkeit, war eine Frage des Ortes und des sozialen Standes. Arme Menschen in Städten waren sicherlich schmutziger, als arme Menschen auf dem Land, wohingegen reiche Menschen immer sauberer waren, weil sie die nötigen Mittel hatten um sich gegen den Schmutz der Welt zu wappnen. Mittel, die durchaus auch die soziale Erwünschtheit und die Gepflogenheiten ihrer Standesgenossen eingeschlossen haben. Die Welt war sicherlich nicht keimfrei steril und sauber, wie wir das heute kennen, aber sie war auch eben nicht der schlammbedeckte Morast, als der sie gerne verkauft wird. Das menschliche Bedürfnis nach einem gewissen Maß an Sauberkeit ist universell und wer die Möglichkeit hat, wird ab einem gewissen Verschmutzungsgrad die Sauberkeit dem Dreck vorziehen. Wer ein paar Stunden ohne Handschuhe mit lehmiger Erde gearbeitet hat wird wissen wovon ich spreche. Aber kommen wir zurück zur eigentlichen Frage: Was sagt uns all das für die Abnutzung unserer Hobbyklamotten?

 

Das unspektakuläre Geheimnis ist: Es gibt keine Pauschalanweisung für einen authentischen Used-Look. Es ist ein Prozess. Ein Prozess, der mit der Beschäftigung mit dem eigenen Charakter und seiner Kleidung beginnt. In welcher Situation trägt mein Charakter denn welche Klamotte? Womit kommt er da in Berührung? Achtet er besonders auf manche Kleidungsstücke? Ist ihm oder ihr das schlichtweg scheißegal? Und wie sieht die Welt um ihn herum aus? Also wie sieht sie wirklich aus? Wenn man das erstmal durchdacht hat, wird einem recht schnell klar wo, wie und vor allem wieviel Schmutz und Abnutzung die eigene Klamotte vertragen kann… ganz ohne dass man sich lieblos und sinnfrei Dreck ins Gesicht schmieren muss.

 

1 Ich weiß selber, dass es „DAS Mittelalter“ so nicht gab. Aber bevor ich noch fünf Absätze über die Differenzierung historischer Epochen, die in unwissenden Kreisen gerne als „DAS Mittelalter“ zusammengefasst werden schwafele, mache ich an dieser Stelle einfach einen charmanten Ausfallschritt in Richtung GroMi. ;)

 

2 Fun Fact: Archäologisch betrachtet, waren sowohl die Germanen als auch die Wikingerzeitlichen Skandinavier keine zotteligen, ungepflegten Barbaren, sondern sehr reinliche und gepflegte Typen.

 

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