Der Used-Look und die mittelalterliche Darstellung. Teil 1

Es muss etwa 1997 gewesen sein, als meine Oma auf einem Supermarktparkplatz einen überaus kritischen und musternden Blick auf mir ruhen ließ und ich erinnere mich noch gut daran, wie eben jener Blick in ein missbilligendes Kopfschütteln überging. Natürlich galt diese Missbilligung nicht mir, meine Oma hat mich abgöttisch geliebt, was ich allerdings nicht über meinen Kleidungsstil zu jener Zeit sagen konnte. Meine einstmals sattblaue Jeans war einem filigranen Netz verwaschener, blassblauer Fäden gewichen, von denen niemand so wirklich wusste, wovon sie eigentlich noch zusammengehalten werden. Die einst lichtlose Schwärze meines Iron Maiden T-Shirts war einer Reihe pittoresker Schattierungen von Grau bis Anthrazit gewichen (ein Prozess in dessen Verlauf auch seine Ärmel das Zeitliche gesegnet hatten) und das vormals strahlende Weiß meiner Chucks hatte seine Strahlkraft in den Bereich der Farbpalette irgendwo zwischen Elfenbein und Ockergelb verlegt.

 

Etwa 20 Jahre früher, abseits von Supermarktparkplätzen, hatte George Lucas Star Wars gedreht und damit mit dem bisher gültigen Status Quo seines Genres gebrochen. Während Space Operas und Science-Fiction Filme1 bis dato immer einen möglichst sauberen, futuristischen Look im Bühnen- und Kostümbild bevorzugt hatten (ein Trend, den Stark Trek bspw. bis heute fleißig am Leben hält und nach wie vor dafür sorgt, dass jede Crew so aussieht, als würde eine verwirrte Gruppe vom Katalogmodels im Inneren eines iPhones durch das Weltall fliegen), sah bei Star Wars der Großteil des Universums und der Gegenstände darin so benutzt, abgegriffen und heruntergekommen aus, als hätte der TÜV Rheinland schon das eine oder andere Mal mit der Stilllegung gedroht. George Lucas hatte mit Star Wars das geschaffen, was als Used Universe in die Annalen der Designgeschichte eingegangen ist.

 

Geht’s hier gar nicht ums Mittelalterhobby?

 

Doch, geht es. Die beiden Zauberworte, die ich an dieser Stelle in den Raum werfen muss (und auch will) sind „Immersion“ und „Authentizität“. Wer jetzt kurz davor ist in Schnappatmung auszubrechen, den kann ich fürs Erste beruhigen. Wenn ich „Authentizität “ sage, dann meine ich das erstmal nicht in dem Sinne, wie es den zu Unrecht verschrienen A-Päpsten dieser Welt, in den Kommentarspalten des Interwebz gerne mal vorgeworfen wird. Sehen wir uns das mal kurz an: Immersion meint die Eigenschaft oder den Effekt, ein möglichst glaubhaftes und intensives Erlebnis der Spielwelt zu ermöglichen bzw. sich in diese nahtlos einzufügen. Klar so weit. Beim Thema Authentizität wird es allerdings schon ein wenig schwieriger…

 

Allzu oft landen wir hier nämlich wieder im historischen/archäologischen Kontext und zanken uns um die (für dieses Beispiel völlig unerhebliche) Frage, ob dieses oder jenes „authentisch“ im Sinne von „original“ sei oder nicht. Das brauchen wir an dieser Stelle nicht. Zum Glück hat Wikipedia hier die absolut passende Erklärung parat:

 

Eine als authentisch bezeichnete Person wirkt besonders „echt“, strahlt aus, dass sie zu sich selbst mit ihren Stärken und Schwächen steht und im Einklang mit sich selbst handelt. Sie vermittelt ein Bild von sich, das beim Betrachter als ehrlich, stimmig, urwüchsig, unverbogen, ungekünstelt wahrgenommen wird. Dabei muss es sich nicht um die realen Eigenschaften des Betrachteten handeln.“2

 

Wenn wir jetzt noch gedanklich Person durch Darstellung ersetzen, sind wir genau da, wo wir hinwollen! Ha! Aber erst einmal zurück zu meinem 90er Jahre-Ich und George Lucas. Sowohl mein Outfit von 1997 als auch George Lucas´ Used Universe sind hervorragende Beispiele dafür, wie durch Authentizität in der Abnutzung, die oft beschworene Immersion positiv beeinflusst werden kann. Stellen wir uns einmal vor, wie ich in jener Zeit, mit einer Gruppe Gleichgesinnter irgendwo in der Gegend herumgelungert habe: Ähnliche Menschen, ähnliche Kleidung, ähnliche Abnutzungserscheinungen. Ein homogenes Bild einer revoluzenden Masse Subkultur-Teenager. Ach, war das schön damals… Jetzt stellen wir uns mal weiter vor, ein ambitioniertes Elternteil sieht diese Gruppe und denkt sich sinngemäß: „Ah, die coolen Kids. Ich ziehe mein sozial eher wenig integriertes Kind einfach mal so an wie die Lümmel an der Ecke und stelle es dazu, damit es auch cool wird.“ Zum einen… Ruhe bitte, wir waren die coolen Kids. Zum anderen… ja, sowas gab es. ;) Natürlich kann man so zu Werke gehen und auf Erfolg hoffen, aber an diesem Punkt driften Form und Inhalt leider allzu oft dramatisch auseinander. Spinnen wir diesen Gedanken mal weiter und gehen davon aus, dass unser fiktives Elternteil mit Nachwuchs A einen ausgedehnten Shoppingnachmittag verbracht und ein Set von Klamotten erstanden hätte, das sehr stimmig dem Dresscode der coolen Kids entsprochen hätte. Gehen wir ebenfalls davon aus, dass unser ambitioniertes Elternteil sogar daran gedacht hätte unter Tränen des Unverständnisses das Teppichmesser zu zücken und die Hosenbeine der Jeans zu zerfetzen und dem packungsfrischen T-Shirt die Arme zu nehmen. Die Große Frage wäre doch gewesen: Hätte das funktioniert? Long Story Short: Nein. Richtige Klamotten? Ja. „Immersion“ und „Authentizität “? Nein. Schlicht und einfach Nein. Das arme Kind hätte einfach verkleidet ausgesehen und nicht auf die Art und Weise, die bestimmend für unser aller Hobby an sich ist, sondern auf die Art und Weise, wie manche Menschen einfach verkleidet und verloren im Anzug aussehen.

 

Jetzt reden wir übers Hobby. Wirklich.

 

Eine Sache muss uns klar sein: Die Stimmigkeit und Authentizität einer Darstellung und die daraus erwachsende Immersion, entsteht nicht durch eine willkürliche Verkleidung, die wahllos mit Schlamm bedeckt und mit Löchern zerfetzt ist. Die Stimmigkeit und Authentizität einer Darstellung entsteht dadurch, dass unsere Verkleidung nicht nach einer Verkleidung aussieht, sondern nach der Kleidung, der alltäglichen, 24/7, 365 Tage im Jahr Kleidung unseres Charakters. Klingt erstmal abstrus, aber die besten Verkleidungen sind nun mal die, die nicht nach Verkleidung aussehen. Um sich das vor Augen zu führen, muss man nur mal kurz selbige schließen und sich den feinen, aber essenziellen Unterschied zwischen LARP und Karneval vor Augen führen: Nehmen wir mal Dirk den Verwaltungsfachangestellten (sorry an alle Dirks und Verwaltungsfachangestellten, die sich jetzt angegriffen fühlen). Dirk entscheidet sich zum Karneval für ein vollkommen ironie- und klischeefreies Cowboykostüm für schlappe 30,- Euronen. Feinstes Plastik mit Filz und Kunstleder, das sitz wie ein Konfirmationsanzug 15 Jahre später. Obwohl Dirk sich formal als Cowboy „verkleidet“ hat, strahlt unter der 30-Euro-Gewandung noch jede Menge Dirk hervor, was vor allem auch daran liegt, dass sich Dirk nach wie vor wie Dirk benimmt und so redet.3 Die meisten Spielarten der Histotainment-Ecke funktionieren anders… zumindest sollten sie anders funktionieren, auch wenn es immer wieder „solche“ Veranstaltungen gibt, aber das ist ein anderes Thema. Wir merken uns: Verkleiden, ohne verkleidet zu sein!

 

Für die Suche nach einer „authentischen“ Klamotte für die eigene Darstellung ist dieser Vergleich Gold wert. Was man doch wirklich will, ist das volle „blending in“ mit der eigenen Klamotte. Der Punkt, an dem Rolle, Spieler und Charakter zu einer authentischen Einheit verschmelzen, die sich voll und ganz in den Hintergrund der Spielwelt eingliedert, ohne anzuecken und komisch oder deplatziert zu wirken. Kurzum: Der heilige Gral der Darstellung! Und dazu gehören (Achtung: Jetzt kommt die Punchline!) mitunter auch Schlamm, Risse, Löcher, Flecken, abgewetzte Kanten und ausgeblichene Farben. Ich lasse das an dieser Stelle erstmal kurz sacken… lass den Gedanken zu… oh ja…

 

Aaaaaaber… ich sage bewusst: Mitunter!

 

1 Natürlich ist Star Wars KEINE Science-Fiction, aber das ist ein anderes Thema!

 

2 https://de.wikipedia.org/wiki/Authentizit%C3%A4t

 

3 Zugegebenermaßen hätte hier nicht einmal der Used-Look etwas gebracht.

 

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Ich habe die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis genommen.